Am 13. Juni 1964 nahm ein besonderes Experiment seinen Lauf, das die Weichen für einen zu damaligen Zeiten revolutionären Schiffsantrieb stellen und zu dem Hapag-Lloyd einige Jahre später einen wesentlichen Beitrag leisten sollte.
In Kiel lief an diesem Tag das erste deutsche Frachtschiff mit Kernenergieantrieb vom Stapel – ein Exot neben den damals üblicherweise mit Öl betriebenen Motor- und Turbinenschiffen. Unter den begeisterten Zuschauern befand sich auch Otto Hahn, Kernchemiker, Nobelpreisträger und Namensgeber des gut 172 Meter langen Schiffes.
Beflügelt vom wirtschaftlichen Aufschwung und dem technischen Fortschritt investierten Bundesrepublik und westdeutsche Industrie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in die nukleare Energiegewinnung an Land. Gleichzeitig rückte auch die Nutzung der Kernenergie auf hoher See in den Fokus: Als alternative Energiequelle für die Schifffahrt schrieb man der Atomkraft zur damaligen Zeit enormes Potential zu. 1956 wurde deshalb in Geesthacht die „Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH“ (GKSS) gegründet, um den maritimen Einsatz der Kernenergie intensiv zu erforschen und weiterzuentwickeln. Bereits wenige Jahre später begann auf Basis der Forschungsarbeiten in Kiel der Bau des Nuklearschiffs „NS Otto Hahn“.
Das Projekt „Atomschiff“ – so der im Volksmund geläufige Name der „Otto Hahn“ – stieß auch bei Hapag-Lloyd in den 1970er Jahren auf großes Interesse. Vor dem Hintergrund der schweren Ölkrise von 1973 entschied das Unternehmen, sich mit alternativen Schiffsantrieben auseinanderzusetzen, um zukünftig nicht länger von endlichen Ressourcen zur Energiegewinnung abhängig zu sein. Innovationsgeist, das war den Verantwortlichen bei Hapag-Lloyd schon damals bewusst, ist unerlässlich, um in einer komplexen Branche wie der Handelsschifffahrt dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben. Den Auftrag der GKSS, die Bereederung und Befrachtung der „Otto Hahn“ zu übernehmen, begrüßte Hapag-Lloyd als einmalige Möglichkeit, „Erfahrungen auf dem Gebiet des nuklearen Antriebs von Schiffen (zu) sammeln“, heißt es in dem Geschäftsbericht von 1976. So stach die „Otto Hahn“ ab dem 18. März 1977, neun Jahre nach ihrer Jungfernfahrt, schließlich für Hapag-Lloyd in See.
An Bord des Schiffes hielt sich neben sechzig seemännischen Besatzungsmitgliedern aller Mannschaftsgrade stets eine Crew von bis zu 30 Wissenschaftlern, Technikern und Ingenieuren auf. Ihre Aufgabe war es, die nukleare Anlage regelmäßig zu prüfen. Als Erzfrachter mit sechs großen Laderäumen und einer Gesamtkapazität von mehr als 14.000 Tonnen konstruiert, diente die „Otto Hahn“ jedoch nicht nur dem wissenschaftlichen Fortschritt, sondern bot auch einen praktischen Nutzen. Auf über 70 Ladungsreisen wurden gut 776.000 Tonnen Güter verschifft.
Das, was in Deutschland von vielen als das Schiff der Zukunft gefeiert wurde, stieß allerdings nicht überall gleichermaßen auf Begeisterung. Viele Staaten gewährten der nuklear betriebenen „Otto Hahn“ keinen Einlass in ihre Häfen oder verlangten Sicherheitsgarantien seitens der deutschen Regierung. Und doch: Im Laufe seines Lebens lief das Schiff neben den wichtigsten deutschen Handelshäfen 33 internationale Häfen in 22 Ländern an und legte dabei insgesamt 564.150 Seemeilen (1.044.800 Kilometer) zurück.
Fünfzehn Jahre nach Kiellegung wurde die „Otto Hahn“ schließlich stillgelegt. Das Fazit der Verantwortlichen fiel eindeutig aus: Aus wissenschaftlich-technischer Perspektive hatte sich der Druckwasserreaktor als Antrieb zwar durchaus bewährt; das Schiff blieb durchweg störungsfrei und trotzte Sturm, Wind und Eis. Als wirtschaftlich hatte sich die maritime Nutzung der Kernenergie jedoch nicht erweisen.
Ursprünglich als Pilotprojekt gedacht, blieb die „Otto Hahn“ somit nicht nur das erste, sondern auch das einzige deutsche Frachtschiff mit Kernenergieantrieb. Und auch ein ursprünglich geplantes Nachfolgeprojekt eines Containerschiffes wurde nicht mehr umgesetzt.
Quelle: Hapag-Lloyd